Neujahrsandacht – Gesehen sein

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Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich persönlich geht es nach Silvester oft erstmal auf eine ganz schöne Talfahrt. Der Glitzer, der Zauber verfliegt – man hat viele Menschen getroffen, viele wiedergesehen, die man lange schmerzlich vermisst hatte. Manche hat man auch nicht gesehen, weil es einfach nicht ging. Aus welchen Gründen auch immer. Ernüchterung. Entzauberung. Aufprall.

Und dann dieses „In diesem Jahr wird alles anders…“ Schon vor Weihnachten hört man es aus allen Ecken. Wie frustrierend, dieses Leben in Plänen und Planungen und in der Theorie, anstatt im Hier und Jetzt.

Du bist ein Gott, der mich sieht. – So steht es in der Losung für dieses Jahr. Ein auf den ersten Blick ganz schön unspektakulärer Satz. Ich sehe mich ja selbst täglich. Im Spiegel. Viele Menschen sehen mich jeden Tag. Bewusst, unbewusst, mir nahe oder mir gänzlich unbekannt. Aber in diesem kleinen Satz steckt so viel mehr. Du bist ein Gott, der mich sieht. Der mich anschaut. Der mich durchschaut. Der nicht an mir vorbeischaut. Ein Gott, der weiß – und auch wissen will – wer ich bin. Was mich ausmacht. Der meine Gedanken kennt – auch diese reichlich trüben zu Beginn eines taufrischen Jahres.

Das kann sehr tröstlich sein. Dieses Wissen, dass ich gar nicht erst etwas sagen muss. Dass Gott es ohnehin weiß. Er kennt meine Freude und mein Glück, aber auch meinen Schmerz und meine Trauer. Ich muss mich nicht erklären. Und darf es doch.

Es kann auch ein wenig beängstigend sein. Was ich auch tue, was ich auch vielleicht verbergen will – Gott weiß es. Und er liebt mich. Trotzdem. Oder genau deswegen.

Du bist ein Gott, der mich sieht – das ist für mich eine starke Zusage für ein ganz junges Jahr. Mit all meinen Ideen, Vorstellungen und Hoffnungen sieht er mich und begleitet mich. Auch in Enttäuschungen oder den Momenten, in denen ich mich heillos verzetteln werde, wird er da sein. Er wird sehen, wie sehr ich mich bemüht habe und mich durch mein Scheitern tragen. Er wird sehen, wie wenig ich an mich geglaubt habe und wird meine Erleichterung spüren. Es tut so gut, ein junges Jahr so zu beginnen.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Als ich heute hierhergefahren bin, habe ich eigentlich einen leeren Sack mitnehmen wollen. Und eine Waage. Wofür? fragen Sie sich?

Wenn ich jetzt hier herum gehe und Sie frage, was Sie sich für das neue Jahr vorgenommen haben – was werden Sie dann antworten? Weniger Essen und dafür mehr Sport? Der Klassiker? Mehr lesen und weniger fernsehen? Mehr Freunde treffen und weniger arbeiten? Endlich mal dem Chef die Meinung sagen? Allen überflüssigen Ballast abwerfen? Diese alte Familienfehde beenden? Geduldiger mit den Kindern sein? Mehr Zeit mit dem Partner/der Partnerin verbringen? Und überhaupt die beste Version von sich selbst werden, die Sie sein könnten?

Irgendwie passiert das ja jedes Jahr so ganz schleichend… Mit dem näherrückenden Jahresende kommen die Gedanken an all die verpassten Gelegenheiten des Altjahres. Die Sehnsucht nach dem, was hätte sein können. Die Melancholie der verpassten Chancen und ganz automatisch formt sich dieser Zusatz: „…aber im nächsten Jahr mache ich das besser.“ Und ehe man es sich versieht stapeln sich im Altjahr die Dinge, die man noch unbedingt wollte, damit Weihnachten so richtig schön wird, und bevor man es richtig formulieren konnte, ist dann Silvester und zack… sind daraus die wunderbaren guten Vorsätze geworden.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch – es ist nicht so, dass ich nicht selbst immer wieder Vorsätze finde, aber manchmal schaffe ich es schon, nachsichtig über mich selbst zu grinsen und zu denken: „Ja, ja, Amelie… is klar…“

Woher kommt das eigentlich? Wem wollen wir eigentlich mit unseren guten Vorsätzen etwas beweisen? Uns selbst, die wir doch wissen, was wir alles schaffen? Unseren Partnern oder Partnerinnen, weil wir das Gefühl haben, da vielleicht doch nicht zu genügen? Unseren Kindern, weil wir der Meinung sind, dass sie etwas anderes verdient haben? Ich weiß es nicht.

Und da kommt sie wieder, die Jahreslosung. Du bist ein Gott, der mich sieht. Ja, Gott, Du siehst mich. Siehst mein Bemühen, siehst mein Kümmern, kennst meine inneren Konflikte und kennst mein Dilemma. Du kennst jede Rolle die ich spiele und – Geheimnis: Du kennst sogar mich. In echt. Ungekünstelt. Unverstellt. So, wie ich bin. So wie Du mich willst. So wie Du mich liebst.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Wenn ich mit meinem Sack, den ich ja mitbringen wollte, jetzt herumginge und all die Vorsätze, die Sie nicht ganz und gar ausschließlich für sich selbst gefasst haben, einsammeln würde, wäre dieser ganz sicher im Nullkommanichts randvoll. Und er würde schwer wiegen. Und ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen, mit dieser Jahreslosung einen Weg zu finden, diesem frischen Jahr und sich selbst nicht diese Lasten aufzubürden, sondern ganz frei und beschwingt loszugehen und herauszufinden, was es ganz von allein mit sich bringt, dieses Jahr.

„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Man möchte meinen, dass diese Aussage eine Person gemacht hat, die Schönes und Großes erlebt hat, so ein richtiger Glückspilz. Aber wenn Sie, wenn ihr diesen Vers aus dem ersten Buch Mose nachlest, werden Sie, ihr, schnell feststellen, dass die Person mit Glück nicht so sehr viel zu tun hatte. Das Gegenteil trifft eher zu. Es geht um Hagar, die Magd, die bei Abraham und Sara angestellt ist. Hagar erlebt bei Abraham und Sara wirklich eine problematische Zeit. Abraham und Sara hatten von Gott einen Sohn verheißen bekommen. Darüber sind sie alt geworden und kein Kind wurde ihnen geboren. Das war für sie eine bittere Zeit. Wahrscheinlich hatten sie ihre Hoffnung auf Kinder schon längst aufgegeben und damit auch den Glauben an die Verheißung Gottes. Wahrscheinlich hat das ihr ganzes Glaubensleben mürbe gemacht. Sara unternimmt einen letzten verzweifelten Versuch, dass sie ein Kind bekommt. Sie veranlasst es, dass Abraham mit Hagar schläft.

Hagar gibt sich dazu her in dem Wissen, dass, wenn sie ein Kind bekommt, es als Kind Saras und Abrahams angesehen wird. Und tatsächlich wird Hagar schwanger. Und jetzt erlebt Hagar ein zweites schwerwiegendes Problem. Sara scheint neidisch auf Hagar zu sein und Hagar lässt es Sara spüren, dass sie eine bessere Frau ist, weil sie schwanger wird.

Es kam schließlich so weit, dass Hagar die Flucht in die Wüste ergriff. Sie wollte mit den beiden nichts mehr zu tun haben. Ein Leben in der Wüste – das ist so etwa das Letzte, was einem Menschen passieren kann. Also gar nichts mit „Glückspilz“. Vielleicht wäre Hagar jämmerlich umgekommen, wenn nicht Gott eingegriffen hätte. Er schickte einen Engel zu ihr. Der Engel gibt ihr einen Auftrag und eine Verheißung:“ Geh wieder zurück und ordne dich unter. Du wirst eine große Nachkommenschaft haben. Der Herr hat dein Elend gesehen und gehört.“

Die Begegnung mit Gott hat bei Hagar Großes bewirkt. Und an dieser Stelle kommt dieses Bekenntnis der Hagar: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Dieser Tag heute ist ein Tag wie jeder andere – und doch eben auch nicht. Es liegt ganz schön viel Gewicht, Ballast, Erwartung und Hoffnung auf diesem ersten Tag, der die 2023 trägt. Ich habe dieses Bild der Jahreslosung mitgebracht. Diesen Leuchtturm. Das Licht, das uns immer leitet, in jeder Dunkelheit, ist Gott mit dieser Zusage, dass er uns sieht. UNS sieht. Und unten am Fundament, da rollen leise Wellen mit unseren Hoffnungen, etwas ungestümere Wellen, mit unseren Erwartungen. Und die brausende, tosende Brandung, das sollen unsere Träume sein. Denn nicht die sollten das sein, was wir unterordnen. Wenn wir etwas wirklich erträumen, es ein Herzenswunsch ist, dann sollten wir nach allen Möglichkeiten suchen, unsere Träume zu verwirklichen. Denn ob wir es geschafft haben, ein paar Gramm abzunehmen, mehr Sport zu treiben oder sonst irgendetwas, daran erinnern wir uns irgendwann nicht mehr. Wenn wir aber für unsere Träume eingestanden haben, wenn wir es schaffen auch nur einen einzigen zu verwirklichen, werden wir ganz anders gestärkt sein. Zufrieden. Glücklich. Und das sind die Worte, die ich am Ende eines Jahres sagen können möchte: Es gab Stürme, es gab wirklich harte Zeiten, es war vieles schwer, aber im Großen und Ganzen bin ich zufrieden. Sogar glücklich.

Gehen Sie die ersten Schritte in dieses neue Jahr –  gehen Sie sie behutsam oder ungestüm, gehen sie zögerlich, voller Trauer im Herzen oder: voller Zuversicht. Wie auch immer Sie diese ersten Schritte in das neue Jahr hinein gehen, seien Sie sich gewiss darüber, nicht allein unterwegs zu sein: der Segen unseres Gottes, der Anfang und Ende in seinen Händen hält, ist bei Ihnen. Amen. 

Amen.

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