Ansichtssache

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Ist das Glas halbvoll oder halbleer? Habe ich den halben Weg geschafft oder liegt der halbe Weg noch vor mir? Bin ich zu müde zum Telefonieren oder müde genug zum Schlafen?
Es ist alles Auslegungssache. Es ist nicht einmal meine Persönlichkeit, denn je nach Laune kann das Glas, das gestern noch halbvoll war, heute tatsächlich halbleer sein.

Trotzdem glaube ich, dass ich das beeinflussen kann. Und ich glaube, dass ein Schlüssel dazu Dankbarkeit heißt.

Ich hole ein wenig weiter aus. Ich bekomme eine Nachricht, über die ich mich wahnsinnig freue und möchte diese Freude mit jemandem, der mir nahe steht teilen. Dieser Mensch reagiert aber mit seiner ihm eigenen Persönlichkeit eben ganz anders darauf, als ich. Halbvolles und halbleeres Glas prallen aufeinander. Und dann tauschen sie die Rollen. Dann ist mein gerade noch halbvolles Glas halbleer. Ich bin ernüchtert. Obwohl ich doch gerade noch so euphorisch und mein Glas halbvoll war.

Ich schaffe es in der Situation nicht, das halbleere Glas meines Gesprächspartners als Chance zu sehen. Seine Sicht der Dinge in mein Gesamtbild einfließen zu lassen. In meiner Freude wünsche ich mir, dass auch er diesen Blick durch die rosarote Brille mit mir teilt. Tut er es nicht, bin ich pikiert. Traurig. Fühle mich vielleicht angegriffen oder fühle mich, als würde er mir meine Freude nicht gönnen. Aber bin ich wirklich so wichtig? Geht es meinem Gegenüber, dem ich ja die Nachricht geteilt habe, weil er mir wichtig ist, darum, missgünstig oder neidisch zu sein? Oder hat er nur eine andere Sicht auf die Dinge?

Und dann frage ich mich: Bin ich gerade auf dem richtigen Weg unterwegs? Wer bin ich, dass jede und jeder meine Sicht der Dinge teilen muss? Viele Leben sind inzwischen – gerade nach den entbehrungsreichen letzten Monaten – geteilt in ein virtuelles Leben und das echte. Mit Mitschülern, Kollegen, Familienmitgliedern verbunden über den Bildschirm. Vernetzt über unterschiedlichste Kanäle. Instagram. WhatsApp. Snapchat – oder Zoom, so wie wir jetzt gerade. Das digitale Leben, so viele Vorteile es auch hat, so viele Nachteile bringt es auch mit sich. Jeder präsentiert nur seine schönsten Bilder, sorgsam ausgesucht, zeigt seine strahlendsten Seiten. Und dann befinden wir uns schon in dem Strudel der selbstgemachten Unzulänglichkeiten. „Die Familie hat ihr Haus wunderbar renoviert und bei mir herrscht doch das Chaos.“ „Die eine Mutter hat so viel zu tun, wuppt Job und Kinder und Haus so nebenbei und sieht immer aus wie das strahlende Leben, während ich froh bin, wenn ich meine täglichen Aufgaben schaffe.“ „Der Mann geht jeden Tag joggen und macht alles am Haus selbst, während ich zwei linke Hände habe und Sport noch nie mein Ding war.“ „Die meisten tragen gerade nur noch Marke X – alles was ich habe ist also uncool, nicht mehr gefragt.“ „Die Nachbarn bekommen ständig Besuch von ihren Enkelkindern, während meine nur noch Computer spielen und nichts von sich hören lassen.“

Und so rutsche ich dann rein in ein Leben, das ja gar nicht mehr meins ist. Ich schaue so viel nach rechts und links, voller Angst etwas zu verpassen – einen neuen Trend oder den neuen hippen Designer, die angesagteste Musik – dass ich eines tatsächlich verpasse: mein eigenes Leben.

Auf der Suche nach Anerkennung, nach Teilhabe an allem, was nur irgendwie möglich ist, vergesse ich mich selbst. Obwohl das hier doch mein Platz ist. Ich bin hier nicht einfach so, ich bin hier, weil Gott es so wollte. Und besonders das ist in einer Krise wie dieser so schwer. In den eigenen vier Wänden auf Normalität wartend bleiben oft nur der Fernseher und digitale Unterhaltungsmedien. Wir können uns nicht treffen, sind oft zu müde zum Telefonieren oder sogar zu traurig. Beim Klang geliebter und schmerzlich vermisster Stimmen fühlt sich manche Entbehrung dann noch schlimmer an. Kein Wunder also, dass wir uns digital ablenken. Mal rüber schauen, was die anderen gerade so machen. Mal hören, was gerade so los ist, in der Meinungsmaschinerie. Auf welches Brett ich wohl aufspringen könnte.

Wie würde sie aussehen, hätten wir neben all den anderen Apps auf unserem Smartphone oder Tablet die Gott-App? Würde sie uns daran erinnern, dass wir mit ihm immer vernetzt sind? Würde sie uns daran erinnern, dass er uns nach seinem Ebenbild geschaffen hat? Würde sie uns sagen, dass wir genau so sein sollen, wie wir sind und dass wir genau so wunderbar sind? Würde die App uns daran erinnern, wem wir diese unsere Einzigartigkeit verdanken? Gäbe es für die Gott-App ein einfaches Update, wenn die Verbindung gerade mal ruckelt?

Und: Brauchen wir wirklich so eine App, weil eben alles in unserem Leben momentan digital ist und schnelllebig? Oder finden wir ihn auch analog noch, den Weg zu unserem Vater im Himmel? Suchen wir noch nach ihm? Kennen wir noch den Weg, den Jesus für uns gegangen ist? Was hat er für uns auf sich genommen?

Und frage ich noch einmal: Brauchen wir wirklich eine solche App, die uns an unsere Verbindung zu unserem Vater im Himmel erinnert? Brauchen wir nicht vielmehr ein wenig Stille? In uns und um uns? Und wie können wir diese Stille aushalten? Jeder kennt sie, diese laute, anklagende Stille, die unbedingt will, dass wir uns mit uns selbst auseinandersetzen. Und wie gern übertönen wir sie mit einer unserer vielen Apps zum Musikhören oder Videos anschauen. Und wie schaffen wir es, Stille überhaupt wieder einmal zuzulassen? Sie zu wollen? Keine Angst zu haben, in der Zwischenzeit etwas zu verpassen? Wie schaffen wir es, keine Angst vor den Gefühlen zu haben, die uns da vielleicht erwarten? Wie schaffen wir es, selbstbewusst auch mal Nein zu sagen?

Ich habe zu Beginn von dem Schlüssel geschrieben, der für mich Dankbarkeit heißt. Warum? Offenbar ist es so, dass die Dankbarkeit bei uns nicht gleich mit der Geburt vorprogrammiert ist. Wir neigen vielmehr dazu, zu murren, uns zu beklagen, schwarz zu sehen und mit vielem nicht zufrieden zu sein. Oft hören wir nicht einmal richtig zu.

Eine mittlerweile weit verbreitete Haltung ist das „Jammern auf hohem Niveau“.

Die größte Kraft des Lebens ist der Dank. Wenn wir das verinnerlichen, können wir selbst daraus ungeahnte Kräfte schöpfen – mit der Kraft und Hilfe des Höchsten selbst.

Denn wer dankt, schaut anders in die Welt und anders aus der Wäsche! Wer dankt, erlebt die Welt anders, sieht sie mit ganz anderen Augen, macht Entdeckungen, die anderen verborgen bleiben. Er entdeckt den großen Gott in der winzigen Blüte am Wegesrand. Er sieht Gott auch in den bereichernden Begegnungen mit Menschen, in der Freude an der Arbeit und in den ganz alltäglichen Dingen, die zu unserem Leben gehören: ein gutes Essen, die Freude am Garten, der Spaß an der Musik, die Geborgenheit der Familie, …

Mit dankbaren Menschen zusammen zu sein ist so angenehm, denn von ihnen geht etwas Fröhliches, Mutmachendes aus. Und dann ahnt man schon etwas von der Wahrheit: „Die größte Kraft des Lebens ist der Dank“.

Das heißt nicht, dass man niemals klagen darf oder traurig sein. Denn das würde ja dem Zeugnis Jesu komplett widersprechen. Jesus selbst war sehr traurig. Laut hat er geklagt im Garten Gethsemane. In vielen Psalmen finden wir selbst die Ermutigung, unsere echte Klage und unseren wirklichen Schmerz vor Gott zu bringen. Denn er möchte, dass wir authentisch sind, uns nicht verbiegen und vor ihm eine „fromme Show“ abziehen.

Gott geht es dabei um mich. Um meine Einstellung. Um meine innere Haltung. Darum, wie ich dem Leben begegne. Mich mit verschiedenen Situationen auseinander setze. Und da frage ich mich: Nehme ich wirklich alles aus der Hand Gottes, als ein Geschenk?

Anstatt uns viel zu oft an anderen zu orientieren, sollten wir uns vor Augen führen, wie viele Gründe zur Dankbarkeit wir ganz selbst haben. Dankbarkeit führt uns auf den Weg. Mal über Umwege, oder durch einen Kreisverkehr, oder wie stehen mal viel zu lange vor einer roten Ampel oder rauschen mit Karacho durch eine Radarfalle. Aber im Rückblick hat das alles oft einen Sinn. Und vielleicht ist heute der richtige Tag, um sich einfach mal im Spiegel zu betrachten und dankbar für sich selbst zu sein. Du für Dich und ich für mich. Denn genauso sollen wir sein. Genauso wollte er uns haben. Dich und mich. Mit unseren Stärken und Schwächen. Mit unseren Unsicherheiten und Fragen. Mit unserem Drängen und unserem Bitten. Mit all den übersprudelnden Gefühlen, die in uns schlummern, und die wir bei anderen ohnehin nicht kopieren können. Denn zum Glück sind wir einzigartig, du und ich.

Ich glaube, wenn man sein Herz vor all den Kleinigkeiten, die einem am Wegesrand begegnen, nicht verschließt, dann ist das der Grundstein für unseren eigenen Weg in der Nachfolge Jesu. Ich habe dazu in dieser Woche ein Gebet gelesen, dessen Verfasser unbekannt ist, das aber wohl aus dem 14. Jahrhundert stammt. Es lautet: Christus hat keine Hände – nur unsere Hände, um seine Arbeit heute zu tun. Er hat keine Füße – nur unsere Füße und Menschen auf seinen Weg zu führen. Christus hat keine Lippen – nur unsere Lippen, um Menschen von ihm zu erzählen. Er hat keine Hilfe – nur unsere Hilfe, um Menschen an seine Seite zu bringen.

2 Antworten

  1. Carola Schoenstein sagt:

    Was für schöne und viele Gedanken! Ich freue mich, dass Sie diese alle hier teilen. Sie haben den Menschen viel zu geben, liebe Amelie!
    Herzliche Grüße aus Bergneustadt,
    Carola Schönstein

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