Für mich ist klar, dass ich an diesem Tag, der so viel verändert hat, auch dieses Jahr wieder etwas schreibe. Ich bin oft erstaunt, wie viel mir dieser Tag, dieser 30.04. bedeutet und wie absolut individuell das ist. Es ist eben Trauer. Und Trauer bewegt jeden anders. Verändert jeden anders. Bleibt wie ein Schatten – mal größer, mal kleiner und vielleicht auch mal verborgen. Aber da.
Unser Ritual ist es geworden, uns an deinem Grab zu treffen. Bunte Ballons steigen zu lassen, wie wir es am Tag deiner Beerdigung gemacht haben. Wir treffen uns, schlucken eventuellen Ärger herunter, jeder bringt seine Gedanken und Gefühle mit, wir sind zusammen. Essen gemeinsam. Für mich ist das wichtig. Weil ich weiß, dass so ein Tag, an dem wir alle zusammen sind, was irgendwie mit sich verändernden Lebensmittelpunkten und Aufgaben schwieriger wird, ganz in Deinem Sinne wäre. Und ich weiß, Du wärst sofort mit dabei, wenn es darum ginge, ein fröhliches Zusammensein zu organisieren. Komischerweise ist der Tag, an dem Du gestorben bist, mehr Dein Tag geworden, als Dein Geburtstag. Ich weiß selbst nicht genau, warum.
An diesem Tag ist alles nochmal ganz real. Jedes Jahr muss auch ich mich wieder damit auseinandersetzen, was ich falsch gemacht habe. Wen ich allein gelassen habe. Wo ich nicht richtig entschieden habe. Und über so vieles legt sich dieser romantische Filter, den die Vergangenheit so wunderbar über Schlechtes legen und es nicht mehr so schlimm und dramatisch erscheinen lassen kann, aber nicht darüber. Nein. Heute weiß ich vielleicht, dass das wohl meine Art war, mit dem Schock und der Trauer umzugehen, aber richtig war einiges nicht. Paula sagte es damals, am Tag danach, und noch heute habe ich Tränen in den Augen beim Gedanken daran, weil es eine der wenigen immer noch extrem deutlichen Situationen ist: „Amelie, weißt du schon, dass meine Mama gestorben ist?“ Und ich nicke, weil ich nichts sagen kann und sie sagt: „Was geschehen ist, ist geschehen.“ Unumkehrbar. Du bist nicht mehr da und ich habe falsche Entscheidungen getroffen. Mich nicht richtig verhalten. Was geschehen ist, ist geschehen.
In der ersten Zeit nach Deinem Tod war ich in vielen Dingen sehr radikal. Motorradfahrer habe ich alle über einen Kamm geschoren – diesen einen ganz besonders. Mit Gott wollte ich nichts mehr zu tun haben – wie konnte er das zulassen. Zuviel Nähe zuzulassen ging gar nicht – ich wollte so etwas nie mehr erleben. Gefühlsausbrüche – nach einer gewissen Zeit nur noch im stillen Kämmerlein. Die Gesellschaft erlaubt dir ein bisschen Trauer, aber dann muss es auch wieder gut sein. Ich wollte mich vorbereiten. Irgendwie. Vorsorgen für mein Kind. Aber alle Entscheidungen habe ich wieder und wieder verschoben – wer will sich schon mit seinem eigenen Tod auseinandersetzen.
Aber irgendwann habe ich dann verstanden, dass ich gar nicht mit Gott fertig war, weil er noch lange nicht mit mir fertig war. Ich hatte meine Grenzen erreicht. Fühlte mich am Ende. Taub. Durch meine Schuld – nicht an Deinem Tod, aber an so manchem drumherum. Durch das, was vermeintlich andere mir angetan hatten (und dabei ging es doch in der Hauptsache gar nicht um mich). Durch diesen Schicksalsschlag. Durch die Trauer. Ich habe noch einige Zeit gebraucht, aber dann verstanden, dass Gott noch lange nicht am Ende ist mit mir. Bei Jesaja heißt es: Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der HERR, dein Erbarmer.
Dein Tod und alles, was danach kam, haben mich verändert. Mein ganzes Leben. Mein Denken. Vieles kommt erst jetzt so langsam ans Licht. Vieles begreife ich erst so langsam. Mit vielem setze ich mich erst jetzt auseinander.
Du bist ein Teil meines Lebens. Immer noch. Du fehlst mir in meinem Leben. Immer noch. Ich stelle mir oft vor, wie Du reagieren und was Du sagen würdest. Immer noch. Ich bin wütend über das, was sich für uns alle so verändert hat. Immer noch. Ich verbiete mir manche Gedanken, weil sie mich nicht weiterbringen würden. Immer noch. Ich wünsche mir jeden Tag, dass Du anrufst und sagst: „Hey, was geht? Heute schon was vor?“ Immer noch. Ich wünsche mir ein bisschen von Deiner Kreativität, Deinem Mut, Deiner lockeren Art im Umgang mit anderen. Immer noch. Ich wünsche mir Dich als Sparringspartner, wünsche mir, dass uns wieder einmal jemand verwechselt, wünsche mir, mit Dir Klamotten zu tauschen, Kinderzimmer umzugestalten, Diskussionen darüber, ob wir zusammen ausgehen, Ikeabesuche am Samstagabend und Streitgespräche in Deiner Küche. Immer noch.
Die meisten ersten Male seit Deinem Tod dürften wir bereits erlebt haben. Geburten, Hochzeiten, Krankheiten, Einschulungen, Konfirmationen… Aber hey, wusstest Du, dass wir hier unten seit einiger Zeit eine Pandemie durchspielen? Das ist übrigens ein erstes Mal von dem ich mir wünsche, dass es das einzige Mal bleibt. Immerhin hat sie mir nochmal deutlich gezeigt, wie zerbrechlich das Leben hier ist. Wie kurz es sein kann. Und dass nicht ich das letzte Wort über mein Leben habe.
Wir sind noch in der österlichen Zeit – Kreuz und Auferstehung noch so präsent. Du bist bereits dort. In Gottes Ewigkeit. Und dort werden wir uns wieder begegnen. Irgendwann. Das trägt mich. Und das lässt mich nach vorne schauen und bei allem Vermissen auch die Zuversicht nicht verlieren. Das lässt mich sogar daran arbeiten, mit den Erfahrungen und dem neu gewonnen Wissen durch das Studium und meine Arbeit, für andere da zu sein. Denn das ist mein Plan. Dort anzusetzen, wo es uns damals fehlte und es nach meinen Recherchen auch immer noch fehlt oder zu wenig Angebote gibt. Ich werde Dir davon berichten. Der eine oder andere Brief an Dich wird hier mit Sicherheit noch entstehen. Auch wenn mittlerweile eine Patientenverfügung in meinem Schreibtisch liegt. Ein Organspendeausweis ausgefüllt in meinem Portemonnaie liegt. Ich Gedanken formulieren konnte, was ich mir wünsche, wenn meine Zeit mal kommen wird. Ich hoffe, dass das noch sehr lange dauern wird, bis das mal gebraucht wird. Aber das hast Du damals sicher auch gehofft…
Meine kleine Schwester – wir sehen uns wieder. Ich liebe Dich. Jeden Tag.
Wenn Du Hilfe brauchst, habe ich hier ein paar vielleicht hilfreiche Links für Dich:
Der Verein „Leben ohne Dich e.V.“ ist eine gute Anlauf- und Austauschstelle für verwaiste Eltern und Geschwister: https://www.leben-ohne-dich.de/
Hier findest Du eine gute Übersicht, wann und wie Kinder und Jugendliche in unterschiedlichem Alter auf das Thema Tod und Sterben reagieren bzw. wie und was sie verarbeiten können: https://www.instagram.com/p/Cc15IqBqfx4/?utm_source=ig_web_copy_link
Wenn Du Trauerbegleitung oder seelsorgerliche Unterstützung suchst, schau mal im Kirchenkreis an der Agger vorbei: https://www.ekagger.de/de/diakonie/trauerbegleitung/
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